- Pythagoreer: Askese, Zahlenphilosophie und Harmonielehre
- Pythagoreer: Askese, Zahlenphilosophie und HarmonielehreVon den Lebensdaten des Pythagoras ist nur bekannt, dass der auf Samos geborene Philosoph sich um das Jahr 531 v. Chr. in der griechischen Kolonie Kroton in Süditalien niederließ. Der etwa vierzigjährige Denker begründete dort eine philosophisch-religiös orientierte Lebensgemeinschaft; bei seinen Anhängern genoss Pythagoras unangefochtene Autorität, und er galt als ein religiöser Wundermann. Die streng organisierte Gemeinschaft der Pythagoreer gewann nachhaltigen Einfluss auf das politische Leben einiger süditalischer Städte, noch zu Lebzeiten des Meisters kam es allerdings zu bewaffneten Aufständen gegen sie. Wohl infolge dieser politischen Konflikte siedelte Pythagoras im Alter nach Metapont um, wo er gegen 497 starb.Die Pythagoreer bildeten einen Bund, dessen wichtigste Lehren der strikten Geheimhaltung unterlagen. Da diese im Wesentlichen eingehalten wurde, wissen wir wenig Zuverlässiges über die pythagoreische Philosophie. Sicher ist gleichwohl, dass die Gemeinschaft der Orphik nahe stand, einer altgriechischen Mysterienreligion, die eine »reine« Lebensführung unter Einhaltung bestimmter Regeln anstrebte; denn nur der Reine erhalte Zugang zur Erkenntnis des Göttlichen. Die Pythagoreer verbanden diese asketische Lebensdeutung, nach der die Regelbefolgung jemanden gut oder schlecht werden lässt, mit der Lehre von der Seelenwanderung. Je nach der Qualität eines Lebens wird die Seele in einem höher- oder tieferstehenden Menschen oder gar in Tiergestalt wieder geboren; philosophisch bedeutsam ist die Auffassung des Menschen als Geistseele - die Idee einer vom Leib unterscheidbaren Person.Im Mittelpunkt der pythagoreischen Philosophie scheint die Theorie zweier Urprinzipien gestanden zu haben: des Unbegrenzten und der Grenze. In Anlehnung an Anaximander bestand dabei wohl ein Vorrang des Unbegrenzten; möglich ist aber auch, dass die beiden Prinzipien als gleichrangig aufgefasst wurden und in Verbindung miteinander die gesamte geordnete Welt begründen sollten. Die Rolle der Eins ist bei den Pythagoreern zentral für die Entstehung der Zahlenreihe und insofern auch für die Entstehung der Weltordnung. Besondere Verehrung genoss neben der Eins die Zahl Zehn, auf die die Pythagoreer sogar einen Eid leisteten; sie interpretierten die Zehn als »Tetraktys« (= Vierergruppe), also als die Summe der vier ersten natürlichen Zahlen: 1 + 2 + 3 + 4 = 10, und stellten sie grafisch als Punktmenge in Form eines gleichseitigen Dreiecks dar. Die pythagoreische Zahlenphilosophie bestand nur zum geringeren Teil aus mathematischen Erkenntnissen. Allerdings scheint tatsächlich schon Pythagoras den bis heute nach ihm benannten Satz formuliert zu haben, nach dem im rechtwinkligen Dreieck die summierten Flächeninhalte der beiden Kathetenquadrate dem Flächeninhalt des Hypotenusenquadrats entsprechen; anhand von Beispielen wie 32 + 42 = 52 hat er ihn anschaulich »bewiesen«.Zahlenspekulation betrieben die Pythagoreer vor allem in der Astronomie und der musikalischen Harmonielehre. In der Astronomie ergänzten sie die fünf bekannten Planeten aus spekulativen Gründen so, dass sie auf insgesamt zehn Himmelskörper kamen; deren Bewegung auf ihren Kreisbahnen sollte eine - für gewöhnliche Menschen unhörbare - »Sphärenharmonie« hervorrufen. In der Harmonielehre machten die Pythagoreer überdies die wertvolle Entdeckung, dass sich die Oktave durch Teilung einer Saite nach dem Verhältnis 2 : 1 ergibt, die Quinte nach dem Verhältnis 3 : 2 und die Quarte nach dem Verhältnis 4 : 3. Darüber hinaus interpretierten sie weitere Phänomene als Zahlenrelationen, zum Beispiel die Gerechtigkeit als eine Vier, nämlich als Produkt »von Gleichem mit Gleichem« (2 x 2 = 4). Tief erschüttert wurde die Pythagoreische Lehre durch die Entdeckung der Inkommensurabilität von Seitenlänge und Diagonale eines Quadrats: denn nunmehr schien die zentrale Behauptung unhaltbar, die Welt sei als Ordnung natürlicher Zahlenverhältnisse interpretierbar.Dr. Christoph Horn
Universal-Lexikon. 2012.